Maciej Sz.

Psychoanalize

Ich mag es, Menschen zu beobachten: Die Touristen, die durch die Straßen Wiens flanieren. Die Schüler, die eilig in die Schule hasten. Die Mütter mit ihren Kinderwägen. Die Menschen, die in die Straßenbahnen einsteigen und aus diesen wieder aussteigen und die Reisenden inmitten der ganzen Menschenmassen der U-Bahn.

Alle, die in der Früh ihre Haus-, oder Wohnungstür zuschlagen und dort ihre eigene Geschichte zurücklassen, um für eine Weile zu einem nicht näher gekennzeichneten Fluss zu werden, der durch die Rinnen der Metropole fließt.

Ich – selbst Teil dieser Großstadt – auf dem Weg in die Arbeit oder in ein Geschäft lasse mich inirgendeiner Ecke eines öffentlichen Verkehrsmittels nieder und betrachte die versteinerten Gesichter, die in die Ferne starren oder sich ganz konzetriert ihren Zeitungen bzw. Mobiltelefonen widmen. Hie und da hört man Gespräche. Manchmal wird diese Konzetration durch eine etwas lautere Stimme oder durch ein schreiendes Baby gestört. In diesen Momenten drehen sich alle Köpfe in eine Richtung, um sich nach einer Weile wieder der ursprünglich Tätigkeit zu widmen. Nachdem ich mir ein Opfer ausgesucht habe, versuche ich mir ein Mosaik seines Lebens zusammenzureimen.

Die Kleidung, das Logo, die Frisur, die Armbanduhr, die Zeitung, die gelesen wird, das Mobiltelefon. Jedes Detail zählt. Manchmal genügt bloß der Name der Zeitung, um eine Person zu beurteilen; so nach dem Motto: „Das was du liest, sagt mehr über dich aus, als du glaubst”. Aus dieser Überlegung heraus könnte ich eine eigene Geschichte spinnen, aber dafür fehlt uns hier die nötige Zeit. Möglich, dass dies noch ein guter Moment ist, sich mit einem Psychologen in Verbindung zu setzen?

Morgen könnte es dafür schon zu spät sein.

Meine Reise zieht mich umso mehr in ihren Bann. Die Frau, die in der Ecke nahe der Tür steht, elegant gekleidet in einen schwarzen, gut geschnittenen Blazer und ungeduldig von einem Bein aufs andere steigt, scheint stark verspätet zu sein. Sie dürfte eher keine Rechtsanwältin sein, zumal davon auszugehen ist, dass Rechtsanwältinnen keine U-Bahn benützen. Sie hat weiße Flecken auf ihrem Rock. Höchstwahrscheinlich wollte ihr kleines Kind sie nach dem Frühstück nicht in die Arbeit lassen und dürfte krampfhaft versucht haben, sich an ihrem Rock festzuhalten.

Bei der nächsten Haltestelle stieß sie die Tür so heftig auf, dass sie auf dem Bahnsteig einige aussteigende Passagiere umstieß. Sie musste tatsächlich sehr spät dran sein. Nach dem kurzen Fiasko, der auf dem Bahnsteig herrschte, standen die Umgestoßenen auf und begenannen ihre Knie zu massieren, während sich die Security um die Dame, die es besonders eilig hatte, „kümmerte”. Aber wie ein Sprichwort schon sagt: „Eile ist des Teufels Bote”.

Als sich die U-Bahn wieder in Bewegung setzte, wurde ich auf eine junge Frau aufmerksam, die zwei Reihen weiter saß.

Angeblich nehmen Frauen hauptsächlich andere Frauen wahr, die meistens auch noch hübscher und attraktiver sind als sie selbst, um bei diesen irgendeinen Makel zu entdecken, der das eigene Selbstwertgefühl steigern würde: eine Laufmasche, verwischte Wimperntusche, ein zu großer Hintern oder krumme Beine.

Die Mehrheit der Passagiere weiblichen Gerschlechts blickte in dieselbe Richtung wie ich.

Die Männer waren – wie immer um diese Zeit – mit ihrer Morgenlektüre beschäftigt; im Gegensatz zu mir, die als typische Durchschnittsfrau ihr Opfer weiterhin anstarrte.

Die Frau hatte schulterlanges, blondes Haar mit feinen goldenen Strähnchen, die nach innen eindreht waren und aussahen als wären sie gerade vom Friseur gestylt worden. Unter ihrer Sonnenbrille konnte man nicht erkennen, wo sie gerade hinsah, aber es konnte sein, dass ich gerade selbst zum Opfer geworden war. Die Brille war groß und dunkelbraun mit einem charakteristischen, goldenen Logo, das gleich vermuten ließ, dass das Objekt der Begierde sehr teuer gewesen sein muss. Etwas tiefer, am Hals, entdeckte ich einen kleinen Anhänger: ein Frosch oder ein Elefant aus Silber. Sie hatte eine Bluse aus leichtem Stoff mit blauem Logo an: einen Polospieler. Dazu trug sie einen kurzen, gut geschnittenen Blazer mit dem Schriftzug Abercrombie & Fitch, Calvin Klein Jeans und Schuhe mit kleinem Absatz, die – obwohl ich die Marke nicht erkennen konnte – perfekt mit dem Gürtel harmonierten. Sie hatte lange Gelfingernägel, die in der Farbe ihrer Bluse blau lackiert waren.

Heute konnte leider keine der Passagierinnen ihr Selbstwertgefühl heben. Es stimmte einfach alles an ihr, als ob sie dem Laufsteg entsprungen wäre. Sie war nicht einmal sehr groß und sicherlich auch kein Model. Sie hätte eher eine Stylistin oder die Tochter eines reichen Vaters sein können, der ein Vermögen für ihre Wünsche ausab.

Plötzlich neigte die Frau ihren Kopf in meine Richtung und winkte mir zu. Mein Herz begann schneller zu schlagen, weil ich sonst niemand neben mir stehen sah. Eines stand fest; ich wurde ertappt.

Vielleicht war das die Enkelin von Corleone, welcher in Kürze die U-Bahn stürmen, mich fesseln und in einen tiefen Brunnen werfen würde. Ich werde sterben!! Die Frau stand auf und kam plötzlich auf mich zu.

Obwohl ich noch einige Stationen fahren musste, begann ich mich in Richtung Tür zu bewegen, da es sicher nur von Vorteil wäre, mich in der Nähe des Ausgangs aufzuhalten. Plötzlich hörte ich die Frau rufen:

– „Hallo Partrycia!” Ich drehte mich um und obwohl es so unwirklich schien, meinte sie tatsächlich mich und lief mir nach. Je näher sie mir kam, umso bekannter erschien mir ihr Gesicht.

– „Teresa??? Teresa, du bist es ja wirklich!! Ich habe dich gar nicht erkannt.

Du siehst so… Verdammt bist du das? Wir haben uns sicherlich schon 2 Jahre lang nicht mehr gesehen. Du siehst toll aus!!

Wie machst du das?? Ich dachte mir, da sitzt ein Teenager vor mir”, sagte ich, nachdem ich mich gefangen hatte.

– „Du siehst aber auch ganz gut aus… O.k., hier sind einige Krähenfüße, aber das macht nichts, die Sonne wirkt jetzt halt so und die Haare… Sind die grau oder hast du dir Strähnchen machen lassen?”- konterte sie.

– „Und bist du noch in derselben Firma?”, wechselte ich schnell das Thema.

– „Ja, ich putze noch immer die Toiletten.”

– „In solchen Klamotten?”, wollte ich wissen. Darauf entgegnete sie mir:

– „Na ja, ich habe begonnen mich dann in die Arbeit umzuziehen, nachdem der Briefträger sich immer zuerst an mich gewandt hat und nicht an meine Arbeitgeberin.

Nach so einer großen Niederlage hinsichtlich meiner psychoanalytischen Fähigkeiten, den Lebenslauf zufällig angetroffener Personen entschlüsseln zu können, habe ich für einige Tage beschlossen damit aufzuhören und mich auf etwas anderes zu konzetrieren.

Dieses Mal galt mein Interesse meinem Aussehen und dem Inhalt meines Kleidungsschrankes. Vielleicht gelingt es mir etwas so umzuändern, dass es aussieht als wäre es alt, aber ein Designerstück.


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